„Vom Eise befreit sind Strom und Bäche – durch des Frühlings holden, belebenden Blick“. Sicher kennen auch Sie noch diese Zeilen aus dem Oster-Spaziergang unseres Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe. Was war das doch früher für ein Glücksgefühl, wenn nach Wochen und Monaten mit Eis, Schnee und Kälte die ersten Blumen wieder aus dem Boden spitzten, die Vögel morgens zwitscherten und die Tage allmählich wärmer wurden!
Die Schlitten wurden weggepackt und die Gartengeräte herausgeholt. Gewiss, der Winter hatte uns Kindern viel Freuden gebracht: Schneeball-Schlachten, Schneemänner bauen, rodeln und später auch Skifahren. Aber alles zu seiner Zeit! Irgendwann im langen Winter sehnte man sich nach Licht und Wärme – und nun wurde diese Sehnsucht erfüllt. Wir brachen Kätzchen- und Birkenzweige als Vorbereitung für das Osterfest.
Unsere Kaninchen knabberten genüsslich das erste frische Gras und die ersten Löwenzahn-Blätter. Wir verfolgten, wie Rinnsale von Schmelzwasser sich zu kleinen Bächen vereinigten, das Eis hinwegspülten, den Blick freigaben auf allerlei Getier im Kiesboden der Bäche. Wenn dann in den sumpfigen Wiesen Wasser unsere Holzpantinen nass machte, dann stopften wir sie aus mit Laub und trockenem Gras.
Dabei haben wir Ausschau gehalten nach den ersten Kräutern, die wir gesammelt und für ein paar Pfennige an der Sammelstelle abgeliefert haben. Ich wusste, wo die ersten und die schönsten Schneeglöckchen wuchsen. Davon habe ich voller Stolz meiner Mutter einen Strauß gepflückt. So schöne Blumen kann es heute gar nicht mehr geben! Jemand wollte mir einmal einen solchen Strauß Schneeglöckchen abkaufen; empört habe ich dieses Angebot abgewiesen!
Sie merken, liebe Leser, wie sehr ich in der Vergangenheit schwelge. Ich finde es traurig, dass dieses Natur-Erleben heute, besonders für die Kinder, weitgehend verloren gegangen ist. Handy und I-Pod haben das menschliche Miteinander und die Verbundenheit mit der Natur weitgehend verdrängt.
Aber ich will nicht allzu viel jammern; auch in unserer Kindheit gab es technische Neuerungen und Fortschritte, mit denen unsere Eltern teilweise überfordert waren. Denken Sie nur an das Telefon, das Auto oder an das Radio Ich will jetzt lieber an die Zeit vor Ostern denken, an die Zeit, wo der Frühling sich ankündigt und Einzug hält. Wir schnitten Birkenzweige, die schon voll im Saft standen, stellten sie zu Hause in eine Vase, damit sie an Ostern ihr zartes Laub entfalteten.
Weidenkätzchen wurden zu Buschen gebunden und an Palmsonntag zur Kirche mitgenommen. Und wir Kinder überlegten, wo wir die Nester verstecken könnten, damit der Osterhase dort die Ostereier für uns hinlegen konnte. Und dafür mussten wir dann ja besonders brav sein! Ja, es war eine Zeit voller Erwartung auf das Neue und Schöne, auf Wärme und Grün, auf Freude und Mitmenschlichkeit. Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie dies heute auch so erleben können!
Ihr Gundolf Schmidt
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Quelle Beitragsbild: © Dr. Gundolf Schmidt