Gestern Demenz – heute Gerontopsychiatrie
Es ist noch gar nicht so lange her, da war Demenz noch „harmlos“. In meiner Jugendzeit gab es auch Demenz, allerdings hieß es damals: Opa ist „verkalkt“ und es wurde kaum darüber gesprochen. Die Symptomatik einer Demenz wurde im hohen Alter als „normal“ angesehen und von allen, manchmal vom ganzen Dorf, mitgetragen. Im Gestern war Demenz teilweise auch ein Grund zum Schmunzeln. Die betroffenen Senioren lebten Zuhause bis zum Schluss. Im Schutz einer Mehrgenerationen-Familie durften sie am Alltag teilhaben und konnten so auch noch verschiedene Aufgaben selbstständig erledigen. Trotz Demenz konnte eine Oma mit den Enkelkindern spielen, ihnen Geschichten erzählen und sogar auf sie aufpassen. Der Mutterinstinkt und die Ausübung der Fürsorgepflicht den Kindern gegenüber blieb lange erhalten. Ein Opa erledigte noch die Gartenarbeit und übernahm auch handwerkliche Tätigkeiten im Schutz der gewohnten Umgebung.
Demenz heute ist anders! Angehörige müssen ihren Lebensunterhalt verdienen, sie können betroffene Senioren nicht rund um die Uhr umsorgen. Der Schutz der Mehrgenerationenhaushalte existiert – insbesondere in Städten- nahezu nicht mehr. Die Betroffenen verlieren den Halt und die gewohnte Regelmäßigkeit. Viele Senioren
mit einer Demenz leben alleine. Sie können sich nicht mehr selbst versorgen und verfallen immer mehr in Ihre eigene Realität. Sie schaffen sich eine neue kleine Fantasiewelt
aus den Erinnerungen, die noch geblieben sind.
Der Versuch, demenziell veränderte Menschen in unsere Realität zu bringen, verunsichert sie und bringt sie in ungewohnte Situationen. Sie werden auffällig und wehren sich, ihre heile, ihnen sicherheitsgebende eigene Welt zu verlassen. Werden Menschen mit einer Demenz auf der Straße aufgefunden, werden sie in aller Regel in Krankenhäuser oder sogar in eine Psychiatrie eingeliefert. Das ist auch nicht zu verdenken, denn es ist nicht so, dass unsere Gesellschaft an Demenz erkrankte Menschen nicht mag, sondern es ist vielmehr der Situation und der Verantwortung geschuldet. Die Betroffenen können oft keine Auskunft mehr über sich geben. Aus Unsicherheit, Angst und weil sie Situationen missverstehen, reagieren sie entweder aggressiv, schlagen um sich, beißen, kratzen und spucken, oder sie ziehen sich in sich selbst zurück und zeigen depressive Verhaltensweisen. Solche herausfordernte Verhaltensweisen können allerdings auch bei bestimmten Formen der Demenz vorkommen. So ist zum Beispiel die Veränderung
der Persönlichkeit bei einer frontotemporalen Demenz, welche im Stirn- und Schläfenbereich des Gehirns lokalisiert ist, ein nachgewiesenes Symptom. Momentan befinden
sich rund 65 Prozent der Pflegefälle in Familienbetreuung. Aufgrund der sinkenden Geburtenrate, aber auch durch die steigende Lebenserwartung, wird es in Zukunft immer
schwieriger, die Pflege privat zu bewältigen. Hier greift die gerontopsychiatrische Facheinrichtung eine Versorgungslücke auf. Gerontopsychiatrie beschäftigt sich mit älteren
Menschen und ihren psychiatrischen Erkrankungen, die typischerweise im Zusammenhang mit einer Demenz in der späten Lebensphase auftreten. Allerdings sind immer mehr
Menschen unter 60 Jahre auf die Pflege und Betreuung in einer gerontopsychiatrischen Facheinrichtung angewiesen.
Einer Umfrage zu Folge stellt Pflegebedürftigkeit eine der größten Ängste des deutschen Durchschnittsbürgers dar. Allzu abwegig sind diese Befürchtungen leider nicht, denn bis zum Jahre 2050 rechnet der internationale Alzheimerverband mit über 250 Millionen hilfsbedürftigen Menschen, die langfristig auf Unterstützung angewiesen sein werden. Um diese Zahl in Relation zu setzen reicht ein Blick auf die Gegenwart – heute sind es rund 100 Millionen Menschen.
In naher Zukunft sind weitreichende medizinische Fortschritte im Bereich der Demenzbehandlung nicht zu erwarten. Die Frage, ob die Krankheit irgendwann heilbar ist, ist derzeit ebenfalls nicht zu beantworten. Eine Verlangsamung der Krankheit ist jedoch heute schon möglich.
(as, wg)
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